Zum Inhalt springen

Hiddensee Kein Platz für Hektik

Für jeden, der sich einige Zeit lang aus dem Alltagsstress ausklinken möchte, ist Hiddensee in der Tat ein idealer Fluchtort. Auch deshalb, weil es etwas Mühe macht, dorthin zu kommen. Eine Brücke nach Rügen gibt es nicht, die Fährschiffe nehmen keine Autos mit.

Wenn während seiner Kirchenführung in einer Handtasche ein Handy klingelt, nimmt Manfred Domrös das mit Humor. Doch eine spitze Bemerkung lässt nicht lange auf sich warten: "Wer auf Hiddensee sein Telefon anlässt, ist selber schuld", sagt der 58-jährige Pfarrer, denn für Hektik sei hier kein Platz. Der Theologe, der seit 17 Jahren die evangelische Gemeinde auf der Insel betreut, möchte den vielen Touristen vermitteln, was die 1100 Bewohner des kleinen Eilandes westlich von Rügen täglich erleben.

Für Autos gibt es hier kaum Möglichkeiten, bewegt zu werden: Die Hauptstraße in Kloster, dem nördlichsten der drei Inseldörfer, ist und bleibt ungeteert. Unter den Baumkronen, die ein Dach über der Huckelpiste bilden, fahren allein Radfahrer und Pferdekutschen, die in gemächlichem Tempo an den reetgedeckten Häusern vorbeiziehen.

Trotz aller Beschaulichkeit bietet Hiddensee allerdings kein Robinson-Crusoe-Erlebnis - zumindest nicht im Sommer. Rund 4000 Gästebetten stehen auf der fast 17 Kilometer langen und maximal drei Kilometer breiten vorpommerschen Insel zur Verfügung. Hinzu kommen in Spitzenzeiten rund 3000 Tagesbesucher, die mit Fähren von Schaprode auf Rügen und Stralsund sowie mit Ausflugsbooten von Breege auf Rügen und der Halbinsel Darß-Zingst Kurs auf Hiddensee nehmen. Obwohl damit sieben Mal mehr Touristen als Einwohner auf der Insel sind, wird es jedoch nicht rummelig - die Urlauber verteilen sich meist ganz gut.

Wer länger auf Hiddensee bleibt, zieht tagsüber zumeist an den Sandstrand an der Westküste und überlässt die anderen Attraktionen den Gästen, die nur ein paar Stunden Zeit haben. Die meisten von ihnen pilgern vor allem nach Kloster - und das aus zwei Gründen: Zum einen bietet der 72 Meter hohe Dornbusch-Hügel dort einen prima Blick über die Insel. Sogar die Kirchtürme und die Volkswerft im fernen Stralsund sind bei gutem Wetter zu sehen. Und zum anderen ist Kloster der Ort, der am stärksten mit Gerhard Hauptmann verknüpft ist.

"Das geistigste aller deutschen Seebäder"

Der Literaturnobelpreisträger kam 1926 bis 1943 in jedem Sommer auf die Insel, die er für das "geistigste aller deutschen Seebäder" hielt, weil auch andere Künstler hier gerne ihre Zeit verbrachten. Das "Haus Seedorn", in dem Hauptmann dann lebte und das er 1930 kaufte, ist heute ein Museum. Innen und außen sieht noch immer alles so aus, wie es Hauptmann mitten im Zweiten Weltkrieg verlassen hat.

"Man soll sich vorstellen können, dass Hauptmann gleich noch einmal vorbeischauen könnte", sagt Museumsleiterin Sonja Kühne. Neben Literaturfreunden, die sich für die Wirkungsstätte des Verfassers von Werken wie "Die Ratten" und "Vor Sonnenaufgang" interessieren, zieht das "Haus Seedorn" daher auch viele andere Besucher an: "Nicht alle sind Hauptmann-Fans. Viele kommen auch, weil sie mal sehen wollen, wie ein Haus in den zwanziger und dreißiger Jahren eingerichtet war."

Bestattet wurde Gerhard Hauptmann 1946 auf dem Inselfriedhof in Kloster - seinem Wunsch entsprechend in einer Mönchskutte und mit dem Neuen Testament unter den Händen. Ein schwerer, mannshoher Findling markiert sein Grab und das seiner Frau. Doch ist der Dichter nicht der einzige Prominente, der an der Kirche von Pastor Manfred Domrös seine letzte Ruhestätte gefunden hat: Auch Puppenschöpferin Käthe Kruse und die Tanzpädagogin Gret Palucca sind hier begraben.

Große Häuser passen nicht auf die Insel

Die Kirche von Kloster ist das einzige, was von der Zisterzienserabtei übrig ist, die dem Ort einst ihren Namen gab und die nach der Reformation verfiel. Pastor Domrös ist darüber nicht unglücklich: "Auf diese Insel passt kein großes Haus", sagt er, bevor er während seiner Führung die Zehn Gebote auf Plattdeutsch vorstellt und Details des Kircheninneren erklärt. So erfahren die Zuhörer etwa, dass der von der bunt bemalten Tonnendecke hängende Engel früher bei Taufen herabgelassen wurde, um aus einer Art Füllhorn das Taufwasser zu spenden. "Dass der etwas drall aussieht, liegt daran, dass er von jemanden geschnitzt wurde, der sonst nur Galionsfiguren gemacht hat."

Nicht nur die große Abtei hat Hiddensee in der Vergangenheit verloren: Der Wald, der die Insel einst überzog, wurde im Dreißigjährigen Krieg abgeholzt, so dass sich die Mitte und der Süden rund um die Orte Vitte und Neuendorf heute vor allem als flaches Heide- und Weideland präsentieren. Teilweise wieder aufgeforstet wurde dagegen im 19. Jahrhundert aus Gründen des Küstenschutzes der Dornbusch, an dessen nach Norden gerichteter Steilküste kräftig die Ostsee nagt. Jährlich rund 30 Zentimeter weicht das Kliff dort zurück.

Der Dornbusch ist eine Hinterlassenschaft der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren, als die Gletscher hier Sand, Geröll, Ton und Mergel aus Skandinavien zusammenschoben. Wie der größte Teil der Insel, gehört er zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Das Ziel der Besucher, die den von Weißdorn, Hasel, Thymian, Golddistel und Roter Heckenkirsche bewachsenen Hügel "erklimmen", ist zumeist der bald 115 Jahre alte Leuchtturm ganz im Norden. Das Wahrzeichen Hiddensees ist zugleich das beliebteste Motiv aller Hobbyfotografen.

Schnelles Wassertaxi

Nach 16 Uhr verlassen die Tagesbesucher Hiddensee dann wieder - von Kloster aus braucht die Fähre zurück nach Schaprode 75 Minuten, von Vitte aus sind es 45, von Neuendorf aus 30 Minuten. Wem das zu lange dauert, kann sich auch ein schnelles Wassertaxi kommen lassen, das Rügen in zehn bis 20 Minuten erreicht. Wer keine Telefonkarte besitzt - auf Hiddensee gibt es immer noch gelbe Telefonhäuschen - müsste dazu allerdings wieder sein Handy einschalten. Und die Hektik des Alltags hätte einen dann doch schon auf der Insel ein wenig wieder gepackt.

Christian Röwekamp, gms